Donnerstag, 10. Oktober 2024

Hellbound!



Der Herbst kann ja zuweilen eine ganz schön melancholische Angelegenheit sein. Ich weiß, ich weiß: Es gibt sie, diese munteren Menschen, die juchzend durchs bunte Laub toben und deren Lieblingsjahreszeit gerade begonnen hat. Das kann ich sogar verstehen. Doch mir persönlich fiele es erheblich leichter, mich den Liebhabern des Herbstes aus vollem Herzen anzuschließen, wenn auf eben diesen Herbst nicht unweigerlich der Winter folgte. Denn den mag ich gar nicht. Das Hingleiten auf den kürzesten Tag des Jahres führt ja bei gar nicht so wenig Menschen zur saisonalen Verstimmung und auch ich kann mich in diesem Jahr einer gewissen schwermütigen Note nicht erwehren. Es liegen für meinen Geschmack einfach zu viele Abschiede in der nasskalten Luft. Nasskalte Luft nicht nur draußen, sondern auch drinnen im Schreib- und vielleicht sogar Oberstübchen, weil meine Heizung kaputt ist. Ein klammes Jammertal, das ich selbstmitleidig durchquere. Sorry dafür.

Und mitten in dieser weltschmerzgeräucherten und abgehängten Stimmung erreichte mich vor ein paar Tagen mit „Hellbound“ die letzte (ja, genau, die LETZTE Anthologie des Whitetrain/Nighttrain). Für mich – und ganz sicher geht es nicht nur mir so! – geht damit eine Ära zu Ende. Seit 2015 bin ich Passagierin des Trains gewesen und habe immer gern dort veröffentlicht. Der damals zufällig entstandene Kontakt zu Lokführer, Maschinist, Partisan und Mastermind Tobias Reckermann ist einer der besten und mir wertvollsten in meinem Autorinnenleben – und wird es hoffentlich auch außerhalb unserer gemeinsamen Zugfahrten bleiben. Ich denke, da können wir Whitetrainies uns jenseits des herbstlichen Schnäuzens mal an die eigenen Nasen fassen und fragen, ob wir nicht doch alles, was Tobias da vierzehn Jahre lang initiiert, bewegt und am Laufen gehalten hat, als allzu selbstverständlich genommen haben.


Nun aber zum höllischen „Hellbound“, einem, wie ich finde, würdigen Abschlusstitel:

Bei Jayaprakash Satyamurthy geht es im „Eden-Express“ (übersetzt von C.V. Eschenfelder) im Zug von Bangalore nach Madras auf einen fiebrig-hypnotischen Trip, bei dem die Ebenen zwischen Vergangenheit, Gegenwart, dem Greifbaren und dem Eventuellen verschwimmen.

Martin Ruf, ebenfalls mit einer Übersetzung in dieser Publikation vertreten, steuert zusätzlich eine eigene Geschichte bei: „Diasmo“. Wer das dem Titel innewohnende Anagramm zu entschlüsseln vermag, befindet sich auf der richtigen Spur, um was es sich hier dreht. Dem kunstvoll gestalteten Aufbau, der geschichtlichen Einbettung und dem genauen Blick auf Sprache und Figuren merkt man die langjährige Hingabe Rufs an die Literatur und das Geschichtenerzählen an, Beruf und Berufung. Eine wunderschön gewebte Geschichte mit Zwischentönen.

Christian Veit Eschenfelder: „Biologische Harpyien“ – Ach komm, beim Titel hatte er mich schon! Und die Begeisterung hielt an im Sog von Eschenfelders oft etwas geheimnisumwehter und ganz eigener Erzählweise. Eine Geschichte über einen Wald, Invasoren und … biologische Harpyien.

Wer noch nicht in Erik R. Andaras „Hotel Kummer“ eingecheckt hat, sollte das dringend tun! In den Erzählteppich dieses Autors einzusinken ist immer eine Freude. Doch Obacht: Der Hotelteppich und das Interieur können mitunter nicht nur staubig, sondern auch mysteriös, dubios und auf eine Weise unheimlich sein, wie wenn einen eine kalte Hand unerwartet von hinten berührt. Wenn ihr versteht, was ich meine.

Die Idee zu meinem eigenen Beitrag „Rosemary’s Scabies“ kam mir auf einer Reise in Singapur beim Besuch des Hell’s Museum. Da hatte es mir so gut gefallen, dass ich sogar mal einen eigenen kleinen Blog-Beitrag dazu geschrieben habe (Hier nachlesen). In meiner Geschichte geht es neben dem kuriosen Museum um falsche/implantierte Erinnerungen und die New Yorker Subway.

Felix Woitkowski legt mit „J“ eine herrlich verrückte Mischung hin. Er selbst sagt dazu: „Mein Beitrag ist eine Hommage an eine Geschichte, die mich wohl wie keine andere in meiner Kindheit geprägt hat: Michael Endes Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer und zwar vor allem in der Inszenierung der Augsburger Puppenkiste. Für meine Geschichte habe ich mich vor allem am Figurenrepertoire von Ende inspirieren lassen, es einmal kräftig durch die Mangel der Weird Fiction gezogen und dann in einer Welt stranden lassen, in der eine Insel aus schwimmenden Lokomotiven nichts als die Hölle ist.“

Louis Marvicks Story „Teufelsmusik“ (übersetzt von M. Ruf) hat leider ein Thema, das bei mir so gar nicht auf dankbaren Grund fällt, nämlich Orgelmusik. Mir ist natürlich bewusst, dass weder Autor noch Übersetzer etwas dafür können, dass diese Registerpfeifenbiester nicht zu meinen Lieblingsinstrumenten zählen, um es vorsichtig auszudrücken. Aber das ist meine persönliche Malaise und sollte euch nicht davon abhalten, die Geschichte mit Gewinn und Genuss zu lesen. Denn es stimmt sonst wirklich alles damit. Sogar ein Zug kommt darin vor. Und eine Trillerpfeife.

„Unter dem Eis die Finsternis“ von Silke Brandt ist für mich eine richtige Entdeckung! Stimmungsvoll geschrieben und mit Zunder und Dampf im Kessel, sowohl in einem Eisbrecher auf See als auch einer Bahn zu Lande. Ob sich die beiden Stahlgefährte treffen werden? Das müsst ihr selbst herausfinden! Die Autorin beschreibt ihre Geschichte übrigens so: „Mein Protagonist, Gentleman und Malzwhiskyliebhaber Arthur Rotermann, wird von seinem Dampfeisbrecher auf die Bahn versetzt. Dort soll der Eisvermesser die Spionin Ava Järve unterstützen, denn der ausländische Zug bringt möglicherweise eine furchtbare Waffe mit ins Land. Um eine diplomatische Krise zu vermeiden, müssen die beiden verdeckt arbeiten. Rotermanns Probleme beginnen mit einer geisterhaften Frauenerscheinung und einem augenscheinlich verrückten Heizer, der die Götter der Tiefsee anbetet, doch auch die Zeit selbst verhält sich nicht immer wie zu erwarten ...“

Das Cover der Ausgabe stammt von Erik R. Andara unter Verwendung des Gemäldes „View of Cardiff Docks“ von Lionel Walden.
Illustriert wurde das Heft, das darf last not least natürlich nicht unerwähnt bleiben, vom wunderbaren David Staege

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Whitetrain, Nighttrain - Mighttrain? Niemals geht man so ganz, wie Trude Herr treffenderweise sang. Also, lieber Tobias, falls du das liest: Sag niemals nie, ok? Ich werde die Hoffnung jedenfalls nicht aufgeben und immer mit Schreibgerät und kleinem Reisegepäck auf dem Bahnsteig nach dem Train Ausschau halten. Und wenn er kommt, steige ich sofort ein und werde voll Freude zu neuen Abenteuern reisen!


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